Der Schimmelreiter und sein
vermummtes Gefolge
Wie in vielen Orten Ostpreußens zog auch im Kreis Wehlau der Schimmelreiter
durch manches Dorf. Bei uns in Sanditten kam er am Heiligen Abend.
Man horchte voller Spannung immer wieder in das Dunkel des Abends hinein,
ob nicht endlich die Glocke zu hören war, die sein Kommen ankündigte.
Ohne den Schimmelreiter und sein Gefolge wäre es kein richtiger Heilig
Abend gewesen. Aber wenn dann der wilde Haufe ungestüm in den Flur
drängte, gruselten sich die Kinder doch und versteckten sich hinter Mutters
Rock. bis der Brummtopf einsetzte und dazu das Lied: ..Wir treten herein ohne
allen Spott, ein'n schön'n guten Abend, den geb euch Gott." Professor
Erhard Riemann schreibt über diesen schönen ostpreußischen Brauch:
„In unserer ostpreußischen Heimat war noch bis in die jüngste Vergangenheit
viel uraltes Brauchtum lebendig. das in den anderen deutschen Landschaften
unbekannt oder längst ausgestorben war. Besonders in der Zwölften, in der
Zeit zwischen Weihnachten und Heiligen Drei Könige. hatten sich Volksglauben
und Brauchtum reich entfaltet. in diesen Nächten, so glaubten unsere Vorfahren
in alter Zeit, zieht die „Wilde Jagd" mit Peitschenknall und Hundegebell
durch die Lüfte. Auch sonst war es unheimlich in diesen Nächten, in denen
sich der Mensch von bösen Geistern bedroht sah und sich auf alle mögliche
sagte man und dachte dabei wohl an böse Urweitkräfte. die den Menschen
und seinen Besitz um diese Zeit mehr als sonst umdrohen.
In einem Umzug vermummter Gestalten waren alle diese dunklen Vorstellungen
Gestalt geworden. und sie waren zugleich gebannt. indem man sie
darstellte: in dem Schimmelreiterzug, diesem für Ostpreußen charakteristischen
Brauch. In der Weihnachtszeit erwartete man immer schon mit
großer Spannung das Erscheinen der ,.Hell Kriste". wie man diesen Umzug
in weiten Gebieten Ostpreußens nannte. Wenn es am Silvester- oder Neujahrsabend
dunkel geworden und das Vieh in den Ställen abgefüttert war.
hörte man plötzlich von draußen her laute Stimmen und Männertritte, Peitschenknalln
und Klingeln von Schlittenglocken. Die Haustür wurde aufgerissen.
und der Anführer mit Peitsche und Klingel in der Hand, mit einer
rohen, selbstgemachten Larve vor dem Gesicht und einer beliebigen Verkleidung
erschien und bat um Einlaß für sein Gefolge: ,,Ist es erlaubt, mit dem
Schimmel einzutreten?" Wenn das gewährt war - und wer hätte eine solche Bitte abschlagen können, dann ergoß sie eine Schaar bunt verkleideter Gestalten in die Stube und führte einen wahren Hexentanz auf.
Die wichtigste Gestalt war der Schimmelreiter. Ein Mann hatte sich vorne
und hinten je ein großes Sieb vorgebunden und beide mit einem weißen
Laken behängt. Am vorderen Sieb war ein selbstgemachter Schimmelkopf
befestigt. der aus einem bewickelten Kratzenhalter oder aus einer hölzernen
Gaffel hergestellt war. Der Schimmelreiter. der also mit seiner oberen Körperhälfte
aus dem Schimmel herausragte. trug einen breitrandigen Filzhut oder
eine spitze Papiermütze, ein weißes Hemd oder auch eine alte Soldatenuniform.
Der Schimmel, der häufig noch von einem besonderen Schimmelführer
an einem Strick oder Sielen geführt wurde, mußte in der Stube alle möglichen
Kunststücke vorführen und über Tisch und Bänke springen.
Neben dem Schimmel war die wichtigste Gestalt des Zuges der Bär. Er war
meistens ganz in Erbsenstroh gewickelt und wurde von einem Bärenführer
an der Kette geführt. Besonders die Mädchen hatten Angst vor ihm. weil
er sie zu packen versuchte und sich dann mit ihnen auf der Erde rollte.
Auch der Storch war gefürchtet. Ein Mann hatte sich ein weißes Laken umgehängt
und ließ vorne einen auf einer Stange befestigten Storchenkopf
herausstecken, in dessen Schnabelspitze manchmal eine Stopfnadel gesteckt
war. Der Storch stöberte mit seinem Schnabel alles durch. und hackte mit
seinem Schnabel oder biß die Mädchen ins Bein.
Der Ziegenbock war die einzige Gestalt, die sich vom Schimmelreiterumzug
lösen und in der Silvesternacht einzeln als Neujahrsbock von Haus zu Haus gehen
konnte. Auch hier trug ein Mann, der mit Laken behängt war, auf einer
Stange einen selbstgemachten Ziegenkopf aus einer hölzernen Gaffel oder sogar
mit echten Hörnern. Neben diesen Hauptgestalten des Umzuges gab es noch
eine Fülle weiterer Nebenfiguren, die In den einzelnen Gegenden wechselten. Da
war zum Beispiel der Schornsteinfeger´, der Ruß und Asche aus Herd und Ofen
holte und in die Stube streute. das Pracherweib, das in einem Korb die Gaben
einsammelte. eine Frau, die ein Kind auf dem Rücken trug und mit einer Feder-
Dose im Mund sein Weinen nachahmte. der Jud und die Judsche. die Waren.
zum Beispiel Hobelspäne oder Papierstreifen als Fitzelband verkauften, die
Ziqeunersche (oder Ziqoansche) und im mittleren Ermland das Wurschtweib,
der Paarchemann und der Flickertomsk. Vereinzelt traten auch der Zigeuner.
ein Prachermann (oder Wengtiner), der Kickert (oder Kieker), der Steife Mann.
ein Dromedar, Affen, ein Wolf. Blechmänner, Clowns und sogar der Tod mit
der Sense auf."
Ouelle: Wehlauer Heimatbrief 18. Folge 1977